Wohin sich Jenseitsreisende auch immer begeben – sei es Hades, Hölle, oder Paradies – und auf welchen Wegen sie dahin gelangen, sie verlassen in jedem Fall die Lebenswelt der Menschen, um „das Geheime zu sehen und das Verhüllte aufzudecken“. Jenseitsreisende überschreiten den Fluss, überqueren das Gebirge, erheben sich in die Lüfte so leicht wie ein Hauch und erreichen die höchsten aller Himmel. Sie steigen hinunter in düstere Unterwelten, wagen sich in Schlünde und Grüfte, tauchen zum Meeresgrund, gelangen in die tiefste aller Tiefen, und – was normalerweise den Sterblichen verwehrt bleibt – sie kehren wieder zurück, um uns Lebenden Bericht zu erstatten.
Dante Alighieris Commedia ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich und zweifellos etwas Neues in ihrer Zeit, sie ist ein Kompendium des Wissens, voller Anspielungen zum politischen Zeitgeschehen, ist Spiegel sozialer und moralischer Befindlichkeiten, eine Bestandsaufnahme der italienischen Gesellschaft des 14. Jahrhunderts, ist Liebesdichtung und bedeutender Beitrag zur Entwicklung der italienischen Volkssprache. Neben all diesen Aspekten steht sie in der Tradition der Jenseitsreisend, jener Wanderer durch Höllen und Himmel seit Gilgamesch, dem großen König des Zweistromlandes, der sich vor 5000 Jahren als einer der Ersten (so viel wir jedenfalls im Moment wissen) auf den Weg machte, um das Geheimnis des Todes zu ergründen.
Die Darstellung und Beschreibung von Anders- und Unterwelten und der Wege, die dorthin führen, bilden ein Genre, das es schon lange vor (und auch noch nach) der Commedia gegeben hat. Dante aber hat seinen eigenen Realismus geschaffen und das bisher meist nebulöse Jenseits als ein gewaltiges Panorama gestaltet. Vor allem seine komplexen Darstellungen der „Höllenlandschaften“ zeigen nicht mehr nur den einen Schreckensort, sondern differenzieren vielfältige Landschaften des Schreckens, die er detailliert ausmalt. Seine Landschaften des Jenseits spiegeln sicher bis zu einem gewissen Grad auch Landschaftserfahrungen der realen Welt. Eindrücke und Erlebnisse aus den lombardischen Städterepubliken und während seiner Reisen in Norditalien spielen hier möglicherweise eine Rolle. Insbesondere die als “Teufelstal” bekannte Gegend um Monterotondo mit ihren heißen Quellen und Geysiren, aus denen schwefelhaltige Dämpfe aufsteigen, könnten Dante, der sie vermutlich kannte, unter anderem inspiriert haben. Aber auch die Höhlen von Škocjan, durch die der Fluss Reka tost, könnten Inspirationsquelle für Dante gewesen sein. Interessanter noch scheint mir aber ein Hinweis auf die Deckenmosaiken der Taufkirche des Doms von Florenz und deren trichterförmigen Kuppel. Hier konnte Dante einen dreiköpfigen Dämon besichtigen, der womöglich Vorlage für seine Luziferdarstellung gewesen ist. Seine Landschaftsschilderungen in der Commedia implementieren aber in weitaus stärkerem Maße fantastische Bilder, die wirkliche Gegebenheiten und Erfahrungen überhöhen und verfremden.
Der Weg des Wanderers in der Commedia führt zunächst durch Wald und Tal. Der Wald wird als wild und finster beschrieben und das Tal führt hin zu jenem Berg, der von der Sonne bestrahlt wird, jedoch nicht bestiegen werden kann, denn wilde Tiere drängen den Wanderer zurück in die Tiefe und Dunkelheit des Tals. Auf Wald und Tal folgt ein Gewässer, der Fluss Acheron, jener Hauptstrom der Unterwelt, in den Styx und Kollegen (Kokytos, Phlegethon und Lethe) münden. Meere und Flüsse bilden in den meisten mythologischen Schilderungen des Jenseits eine natürliche Grenze zwischen den Welten der Lebenden und der Toten. Der Acheron ist allerdings nicht nur mythischer, sondern auch realer Fluss: Im Nordwesten Griechenlands fließt er heute noch wie schon vor Jahrtausenden. Und wie alle anderen überlieferten Hades-Zugänge befindet er sich am Rande der antiken griechischen Welt. Sind Wald, Tal und Berg in der Commedia namen- und konturlos und rein allegorisch zu verstehen, taucht mit dem Acheron ein konkreter Bezug zur Jenseitsvorstellung der Antike und eine reale landschaftliche Situation auf. Es werden in der Folge dann vor allem landschaftliche Extreme geschildert – auf lebensfeindliche Waldwildnis folgen Eissee und Sandwüste – , um das mannigfaltige Bestrafungssystem für die weltlichen Verfehlungen der Menschen möglichst drastisch darzustellen. Auch die Satans-Stadt der Leiden mit all ihrer durchaus vorhandenen Infrastruktur bleibt im Ungefähren. Sie besitzt die typischen Merkmale jener Städte, die Dante kannte: Turm, Tor, Stadtmauern, Gassen. Anstelle der Wohnhäuser finden sich hier – naturgemäß – steinerne Särge und Grabmäler.
Bewegt sich der irdische Wanderer zumeist in der Horizontalen, folgt der Jenseitsreisende einer vertikalen Achse. Dunkel und Licht, Böse und Gut sind die gegensätzlichen Pole dieser Achse. Der christliche Jenseitswanderer hat dabei naturgemäß das Ziel, die Destination Paradies zu erreichen. Verbunden damit ist der hohe Wunsch nach Erlösung und Gottesnähe. Eine meiner frühesten Erinnerungen hinsichtlich der Wege zum Jenseits bezieht sich auf ein großformatiges und aufwendig gerahmtes Bild in der Wohnstube einer alten Dame; ich war als Kind oft zu Besuch bei ihr. Dieses Bild zog mich jedes Mal, wenn ich dort war, in seinen Bann: Es zeigte einen breiten, sorgfältig gepflasterten Weg, auf dem gutgelaunte und elegant gekleidete Menschen flanierten, ohne Zweifel waren sie wohlhabend und ihr Leben konnte als glücklich angenommen werden. Parallel zu ihnen am äußersten rechten Bildrand führte ein erbärmlicher Pfad durch Dornengestrüpp und über wüste Steinhaufen hinweg. Dort sah man einen einsamen Wanderer in zerfetzter Kleidung mühevoll aufwärts steigen. Es bedarf wohl keiner besonderen Erklärung, dass jener mühsame Weg zu den Pforten des Himmels führte, während die bequeme Straße die Gutsituierten geradewegs in die Hölle beförderte.
Als sich Gilgamesch seinerzeit auf den Weg machte, führte sein Weg aus vertrauter Steppenlandschaft zunächst in ein Gebirge, dann durch Wald zum Meeresufer. Dieses Meer muss überquert werden, und nach einem sinnlosen Gemetzel am Seemann Ur-schanabi und seinen Gehilfen gelingt dies auch mithilfe von langen Holzstangen, die Gilgamesch zum Staken benutzt. Von Anfang an werden also anonyme Großlandschaften zitiert: Gebirge, Wald, Meer. Die Unterwelt selbst ist in einem nicht näher definierten Bergland verortet, das schwerlich eine irdische Entsprechung finden dürfte, ist doch die mesopotamische Ebene von zahlreichen bergigen Regionen umringt. In der Antike hingegen stellte man sich das Jenseits als ein riesiges diffuses Niemandsland vor, eine unterirdisch gelegene Welt, in der Menschen nach ihrem Tod als Schattengestalten umherirren, nicht wissend, wozu und wie lange sie in diesem unbestimmten Transitraum bleiben müssen. Die Zugänge zu dieser jenseitigen Unterwelt, dem Hades, waren in der Antike aber konkrete Orte, allesamt im Westen der griechischen Welt gelegen: Der Lago d’Averno westlich von Neapel, die Quellen des Acheron in Epirus und jener am Kap Tenaro auf der Halbinsel Mani, dem südlichsten Ausläufer der Peloponnes, den schon Herakles für seine Hadesreise genutzt haben soll. Kahle, noch immer hoch aufgeworfene Berghügel bilden dort das letzte Aufbegehren des Balkangebirges, dessen südlicher Strang am Kap Tenaro im Meer verendet und gleichsam in sein Gegenteil umgekehrt wird, da nämlich, wo das Meer in die ungeheuerliche Tiefe von mehr als 5000 Metern absinkt. (Das Calypsotief ist eine der tiefsten Stellen des Mittelmeeres überhaupt.)
Eine Wegstunde vom Kap entfernt befand sich das Totenorakel der Spartaner, nahe also bei einem der überlieferten Zugänge des Hades. Die Straße dorthin ist schmal, sie schlängelt sich durch menschenleere Gegend, der Wanderer wird stumm beobachtet von verfallenden Wohntürmen, die auf den umliegenden Berghängen wie Stacheln auf dem Rücken eines urzeitlichen Tieres in die Höhe ragen. Kein Baum, kaum Gesträuch, außer mitleiderregenden Feigenkakteen, säumen den Pfad, die wenigen Siedlungen wirken menschenverlassen und eine Stille senkt sich, sinkt immer tiefer, dringt in Gedanken und Empfindungen ein. Das Ende der Welt habe ich mir seit Kindertagen nicht anders vorgestellt. (...)
Lichtlinien gehen auf Spurensuche, zeichnen Wege nach, Farbfelder und Schattenflächen bilden Strukturen, die vor dem Hintergrund alter Bilder neue Deutungen ermöglichen. Das Licht ist hier Mittler, es öffnet Räume, macht Geschichte sicht- und erlebbar, denn sowohl die wahrnehmbar gemachte Präsenz des Lichts als auch seine Bedeutung als Metapher sind Victoria Coelns Arbeiten eingeschrieben. Ihre Überschreibungen vorhandener Raumsituationen mit Lichtstrukturen und -fragmenten ermöglichen eine neue Wahrnehmung vertrauter Orte. Die aktuelle Arbeit Victoria Coelns in Leipzig ist eine Annäherung an die Ereignisse im Herbst ’89. Behutsam macht sie sich mit den Gegenständen ihrer Forschung vertraut, erkundet Stadtraum, Architektur und Geschichte, bevor sie beginnt, mit Licht und Fotografie daran zu arbeiten. (...)
Light lines venture out in search of clues, they trace tracks. Colour fields and shadow surfaces build structures which make way for new interpretations against the backdrop of old images. Here, light is the intermediary that opens doors, rendering history visible and visceral because it’s not just that Victoria Coeln’s works enlist the presence of light made manifest, they are also informed by the metaphorical meaning of light. The way she superimposes new light structures and fragments on existing spatial constellations paves pathways for new perceptions of old familiar places. Victoria Coeln’s current work in Leipzig converges with the events of autumn, 1989. She treads gingerly around the objects of her study—exploring the urban landscape, its architecture and history before casting her hand on it with light and photography. (...)
Where does light go? – In the fall of 1989, light proceeded from the St. Nicholas Church, circled the central ring road and lit up the cityscape. It followed the path of people who dared venture beyond the safe confines of the church sanctuary, crossed the St. Nicholas courtyard, made their way to the ring road at the city centre, and ultimately shed the power of their light far beyond the reach of the city limits. This is the route that Victoria Coeln traces with her light interventions.
The intersection of art and history. Prominent places—each with its respective historical context—are thrust into the centre of attention. Fields of light, light lines, and rasterisations superimposed on the buildings allow them to speak for themselves. Decisions about form and colour are based not merely on aesthetic considerations, but rather—perhaps to a greater extent—take into account historical events and historical memories associated with these locations and these buildings. – The events of the year 1989 may be situated in the past, but for the city of Leipzig and her people they remain present even after thirty years. They manifest themselves in buildings and places, in memories and stories. Victoria Coeln’s works throw open the shades on shadowy surfaces like windows to shed light on what is not easily grasped, on faded memories tucked between layers of time. We—as observers—become active participants in passing because the shadows that attest to our presence are incorporated into Coeln’s light interventions. And, as soon as we change our positions relative to the illuminated surfaces, the visible form also changes as movement sets in. Our spatial relationships to the familiar and the unfamiliar alike become perceptible—as does the permanent mutability of these relationships. This is how Victoria Coeln uses her work to establish an intellectual relationship to the movements and to the transformation that took place in Leipzig in the fall of 1989—movements and transformations that are ongoing to this day.
Schauen und Zuhören [Look and listen]. Looking is but the first step in Victoria Coeln’s work—it leads to a place of listening in on oneself and to hearing. What was once familiar—appearing as it does in a whole new light—suddenly seems strange and elicits a willingness to re-discover history and memory, to dare to explore new ways of navigating the past and the future.
(Translation Lilian Banks)
Ein halbes Jahrhundert lang hat Gerhard Weber sprichwörtlich Bilder aus dem Leben gegriffen und mit jeder Ausstellung, jedem Bildband gibt er sie wieder zurück. Dass seine Fotografien den Weg zum Betrachter und den Dialog mit ihm suchen und finden, macht ihre besondere Qualität aus. Der leidenschaftliche Blick durch das Objektiv ist von Anbeginn auf Menschen einer Landschaft gerichtet. Es ist die Landschaft zwischen Leipziger Tieflandsbucht und Vorerzgebirge mit ihren Bewohnern, die der Fotograf vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Zeit porträtiert. Es ist seine Landschaft und es sind die ihm aufs Engste vertrauten Menschen. Mit dem hohen Grad an Identifikation und persönlicher Nähe zum Gesehenen gelingt es Gerhard Weber, neben dem Wandel der Kulturlandschaft und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vor allem die gelebte Zeit im Bild festzuhalten. Wie sein gesamtes fotografisches Schaffen vermittelt der vorliegende Bildband als Begleitpublikation zu einer großen Freilichtausstellung Raum und Anreiz für die Erinnerung und das Weitertragen der eigenen Geschichte. Damit knüpft Gerhard Weber an seine eindrucksvollen Werkschauen im Freien an, wie im Dorf Erlln 1985, in der Stadt Colditz 1990/95 und in Kaditzsch 1997. Mit dem Bildzyklus »Lebenszeit« hat Gerhard Weber seinem Œvre ein wichtiges Kapitel über die vergangenen zwanzig Jahre hinzugefügt. Es markiert zugleich einen neuen Abschnitt auf seinem konsequenten künstlerischen Weg. Jörg Jacob bezieht sich in seinem Essay zu diesem Zyklus nur sparsam auf das zu Betrachtende und bringt seinerseits eine originäre Sicht auf die Geschichte und das Leben in der ländlichen und kleinstädtischen Welt des mittel- und westsächsischen Raumes mit ihren gegensätzlichen Polen.
Pressestimmen
Tagesausflug auf der Spur der Bilder
Gerhard Weber zeigt ab 18. Juni in spektakulärer Open-air-Schau 300 großformatige Fotos
Grimma. Eine spektakuläre Freiluftausstellung könnte Grimmas touristische Sommerattraktion werden. Vom 18. Juni an hängen an fünf verschiedenen Stellen 300 großformatige Fotos des Grimmaer Fotografen Gerhard Weber. Sie berichten über das Leben auf dem Land von 1991 bis heute. Lebenszeiten heißt die Schau. Ein kleiner Junge hält stolz und lachend einen Hahn auf den Armen. Ein alter Mann mit dicker Zigarre im Mund stapft über sein Feld und wirft aus einem Blechgefäß mit bloßen Händen Kalk aus. Ein Ehepaar bindet hinter dem Haus Reisigbesen. "Auf dem Land gehen die Uhren langsamer", sagt Weber. Vielen seiner Bilder sieht man tatsächlich nicht an, dass sie zehn Jahre nach der politischen Wende im Osten entstanden sind.(...) Zeitgleich mit der Ausstellung erscheint am Sonnabend Webers neuer Fotoband mit dem Titel "Lebenszeit" mit einem Text von Jörg Jacob. (André Neumann, Leipziger Volkszeitung, Juni 2011)
Im richtigen Moment. Vom Geheimnis des Fotografen Gerhard Weber
Auf die Frage nach dem Geheimnis seiner Arbeitsweise, was die Faszination seiner Bilder hervorrufen, sucht er nach Worten. Dann spricht er vom "Warten auf den richtigen Moment" und der "Liebe auf den ersten Blick" zu seinen Motiven. Doch sein wirkliches Geheimnis ist ein offensichtliches: So intim der Kamerablick auch sein mag: nie denunziert er die Menschen, die er zeigt. Vielleicht ist Gerhard Weber nur zu bescheiden, um das zu sagen. Er sieht sich selber eher als konservativen Fotografen, der "Wirklichkeiten" abbilden möchte, immer auf der Hut vor "Bildlügen", und der gelernt hat, sich dafür Zeit zu nehmen. Das Warten auf den richtigen Moment und das richtige Motiv, dazu gehören Geduld, Erfahrung und der Wille, eine künstlerische Idee umzusetzen. Und der Fotograf Gerhard Weber glaubt auch im Zeitalter von Gentechnologie und Identitätsverlust mit der Zähigkeit eines Idealisten an den authentischen Kern des Menschen. Den aufzuspüren hinter Kleiderordnung, Maske und Inszenierung hat er sich zur Aufgabe gemacht. Das macht ihn sympathisch, und es verleiht seinen Bildern eine kraftvolle Aura, die aus dem Wechselspiel von Nähe und Distanz belebt wird. (Jörg Jacob, Leipziger Volkszeitung, 2010)